Was ist ein Kanon?

von Hanna Beuel, Elisabeth Czarnetzki und Carla Frohnhöfer

Laut Duden versteht man unter dem Begriff „Kanon“ eine „Richtschnur, [einen] Leitfaden“, einen Leitsatz, eine Faustregel oder ein Muster, ein gewisses Etwas eben an dem man sich orientieren kann. Auch als eine „Liste mustergültiger Autoren [und] Werke“ kann man ihn beispielweise begreifen (Vgl. Duden). 
Ein Kanon vereint, egal welcher Disziplin er auch entspringt, aus Bereichen der Kunst, der Literatur oder der Naturwissenschaft eine gewisse Auswahl bestimmter Dinge, hebt sie hervor und dient in gewisser Hinsicht als mustergültig. So ergibt sich aus dieser allgemeinen Begriffs- und Bedeutungserklärung, dass es im Bestreben eines jeden Kanons liegt, nicht alles und jeden in sich zu vereinen und aufzunehmen, sondern eben nur eine bestimmte Auswahl ruhmreich zu machen. 

Diese Auswahl wird als wichtig für die Überlieferung und Traditionsbildung erachtet, mit Blick auf eine bestimmte Gruppe oder Gesellschaft. Als Funktion des Kanons gilt damit die Repräsentation und Selbstdarstellung, aber auch Identitätsstiftung dieser Gruppe/Gesellschaft für die Zukunft – beispielsweise im staatlich organisierten Schulunterricht. Ganz besonders hier werden ästhetische Normen und Vorstellungen durch den Kanon transportiert und geprägt, wodurch der Kanon schließlich auch der Normbildung und Beeinflussung von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen dient (vgl. Leubner/Saupe/Richter, 135–150).

Dass der Kanon dabei seiner Funktion der Repräsentation nicht ganz gerecht wird, zeigt beispielsweise das Fehlen diasporischer, bzw. postmigrantischer Perspektiven, insbesondere in Hinblick auf den Kunstunterricht. Das hängt auch mit dem Selbstverständnis der sogenannten deutschen „Mehrheitsgesellschaft“ zusammen, denn wie Aleida Assmann schreibt, hat die Bundesregierung erst 1998 den Status Deutschlands als Einwanderungsland bestätigt. Obwohl Immigration durch die Bundesregierung mit der Anwerbung von sogenannten „Gastarbeitern“ schon seit den 50er Jahren gezielt gefördert wurde, gehörte sie nicht zum politischen Selbstverständnis des Landes (da von einer Rückkehr der Einwanderer*innen in ihre Herkunftsländer ausgegangen wurde). Wie Assmann schreibt, sei daher erst nach ‘98 eine öffentliche Kontroverse darüber erfolgt, wie in einer Migrationsgesellschaft zu erinnern sei (vgl. Assmann, 127); wobei innerhalb der politisch geführten Integrationsdebatte die Forderung nach Anpassung an eine ,Mehrheitsgesellschaft‘ bis heute dominiert. Problematisch an der vermeintlichen Repräsentativität des Kunstkanons – der vornehmlich aus Positionen Weißer Männer besteht – ist vor allem, dass in einem Einwanderungsland, in dem über 30% der Schüler*innen eine Migrationsgeschichte haben, eine Differenz von „wir“ und „ihr“ gezogen wird, die mit einer Abwertung der Selbstbilder und kulturellen Güter migrantisch markierter Menschen einhergeht.
Zu einer Ausgrenzung aus dem Kanon von künstlerischen Positionen der Diaspora trägt dabei auch die zirkuläre Argumentation bei, dass die Kanonizität von künstlerischen Arbeiten als Beleg für ihre Qualität akzeptiert wird, diese Arbeiten wiederum aber implizit definieren, was künstlerische Qualität sei. Denn diese Implikation führt wiederum zur Abwertung und zum Ausschluss einer Kunst, die sich nicht in die kanonisierten, gewohnten ästhetischen Formen einpassen lässt (vgl. Pethes, 126–130.).

Das führt zu der Frage, wie mit der vorhandenen Unsichtbarmachung und den Praktiken des Ausschließens und Silencings innerhalb der Kanonbildung umgegangen werden kann. 

Literatur:

Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2020.

Leubner, Martin, Anja Saupe und Matthias Richter: Literaturdidaktik. Berlin 2016. 

Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien zur Einführung. Hamburg 2008.

„Kanon, der“, in: https://www.duden.de/rechtschreibung/Kanon_Lied_Leitfaden_Norm (aufgerufen am 25.01.2021)

Abbildung: Jan Vermeer: Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge, ca. 1666, Malerei, Öl auf Leinwand, 44,5 x 39 cm, Den Haag, Mauritshuis. Bildnachweishttps://prometheus.uni-koeln.de/de/image/ffm_conedakor-319a0d50368d4725b74bb843cd9349916fe12db3)

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