Zeitgenössische Kunst und Kanon: Ein Widerspruch?

von Janina Junick

Wir, ca. 24 Kunststudierende der Universität zu Köln, die im Seminar „Kanonfragen“ gemeinsam studieren, schienen uns relativ einig: Ein Kanon für die Kunst sollte unteranderem „altbewährtes“ aber auch zeitgenössische Künstler*innen enthalten. Es fielen dem Kurs bei einem Brainstorming auch einige Beispiele für solche Künstler*innen ein, obwohl auch die von vielen der Studierenden genannte, zeitgenössische Künstlerin Marina Abramovic schon seit einigen Jahrzehnten ein  bekannter Name ist. Gerade bei zeitgenössischen Künstler*innen schien die Frage besonders schwierig. Wer gehört in einen Kanon und vor allem warum?

Die besondere Schwierigkeit, zeitgenössische Künstler*innen in einen Kanon zu integrieren scheint teilweise darin zu bestehen, dass Zeit die Rechtfertigungsversuche überflüssig macht, welche die bildende Kunst – spätestens seit der Avantgardebewegung – mit sich herum trägt. Trotz eines komplexen Netzwerkes von Macht und Zufällen, welche einen Einfluss auf die Kanonisierung oder Nicht–Kanonisierung eines Kunstwerkes haben und das reine Erreichen eines Konsens durch Zeit ausschließt (Vgl. Langfeld: 2018, S. 3) so ist es doch wahrscheinlicher, dass ein Kunstwerk über einen großen Zeitraum, welcher Raum für Reflexion, Kritik und das Ableben von Trends bietet, die Menschen nachhaltig berührt hat.

Die zeitgenössische bildende Kunst scheint immer noch in ihrem Teufelskreis gefangen: Entweder sie vertritt den Anspruch der Autonomie und läuft Gefahr eines Elitismus, welcher sich in der heutigen Zeit wohl eher in einer Gesellschaft von Kunstbesitzern und Sammlern und einem von außen kaum zu durchschaubaren Kunstmarkt zeigt (vgl. Wolfgang Ullrichs Konzept von Kunst von Siegern für Sieger in Hedinger: 2017, S. 46 ff.), oder sie verfolgt weiterhin das Ziel diesen Autonomieanspruch aufzubrechen und das avantgardische Ideal einer Kunst, die nicht für sich selbst steht, sondern Teil des Lebens aller Menschen ist, zu verfolgen. Vilč beschreibt diesen Konflikt in ihrer Dissertation folgendermaßen:

            Man wirft der Kunst vor, was man auch der Theorie regelmäßig, zur Last legt: dass sie die Lücke zwischen sich und dem   Leben,   zwischen  dem   Elfenbeinturm   ihrer   wunderbaren   Schöpfungen   und   der komplexen,    konkreten    Realität    der    Menschenverhältnisse    seit    einiger    Zeit    nicht befriedigend   zu   überwinden wisse–und   dass   sich   immer   wieder   das   unheimliche Schuldgefühl der eigenen Überflüssigkeit in ihr erlöse.

Vilč: 2015, S. 16

Das Erbe der avantgardistischen Künstler hält somit das Bedürfnis aufrecht, dass die Kunst ein bedeutender Teil der Realität menschlichen Lebens ist und das Bedürfnis nach Bedeutung führt einen Relevanz Anspruch mit sich.  Kunst muss relevant sein  um einen Zukunftssanspruch in einer modernen Welt zu haben und Kunst muss sich dementsprechend rechtfertigen können:

„Das Kommunikationssystem Kunst verschloss sich. Einerseits versuchte die Kunstsphäre mit der Theorie eine neue, moderne Position zu artikulieren und  ihre  Zukunft  zu  formulieren –ihre  neue  Rolle  zu  finden  und  sie  zu  rechtfertigen. Andererseits  schloss  sie  damit  automatisch  diejenigen  aus,  die  an  dieser  theoretischen Entwicklung  nicht  beteiligt  waren  und  sie  deswegen  nicht  mehr  oder  überhaupt  noch  nie verstanden haben“ 

Vilč: 2015, S. 20

Der Relevanzanspruch von Kunst, welcher ein immer wiederkehrendes Thema ist, führt zu verschiedenen Symptomen und Ausprägungen in der Betrachtung von Kunst. Einerseits kann Relevanz von Kunst generell oder sogar die Relevanz bestimmter Kunstwerke auf theoretische Ansätze gestützt werden. Hier besteht die Problematik, die Kommunikation von Kunst in ein sprachliches System zu überführen. Auf der anderen Seite kann sich Kunst mit gesellschaftlich relevanten Aspekten, wie zum Beispiel der Politik vereinen um ihren Anspruch auf Verschmelzung mit der alltäglichen Lebensrealität von Menschen gerecht zu werden. Zu diskutieren wäre hier, ob eine Verschmelzung von Politischer Aktivität und Kunst nicht die verschiedenen Wirkungen dieser Ebenen schwächt (vgl. Vilč: 2015, S. 31). Aber warum muss sich Kunst überhaupt auf etwas stützen? Warum kann ein Kunstwerk nicht für sich alleine stehen? Ist Kunst doch von Ästhetik bestimmt und ist die Suche nach einer Relevanz überhaupt notwendig? Ist die Angst ihrer Überflüssigkeit unbegründet, weil Menschen keinen unbedingten Sinn brauchen um sie dennoch zu praktizieren?

Und vor allem: Ist die Zeit selbst ein Instrument, welches uns die Kunst begreifbar machen lässt? Dann wäre Kunst – in einem zeitgenössischen Kontext so schwer zu theoretisieren und in Theorien der Allgemeinheit schmackhaft zu machen – in einem anderen zeitlichen Rahmen betrachtet, viel einfacher zu fassen. Vielleicht ist es daher nicht verwerflich oder besorgniserregend, wenn der Blick zurück einfacher ist als der Blick in die Zukunft. Kann es also sein, dass die Idee eines Kanons, welcher zeitgenössische Künstler enthält, eine Unmöglichkeit ist, weil ein Kanon sich immer nur mit der Vergangenheit beschäftigen kann?

Quellen:

Hedinger, Johannes u. Ullrich, Wolfgang: „Das dreifache Ende der Kunst – Rearistokratisierung, Starkult und harte Konkurrenz:  Was bleibt, wenn der autonome Künstler,  sein Werk und Ideal Geschichte sind?“ Schweizer Monat, März 2017, S. 44 – 48, https://www.academia.edu/32385956/Das_dreifache_Ende_der_Kunst_Wolfgang_Ullrich

Langfeld, G.“The canon in art history: concepts and approaches“. 2018. Journal of Art Historiography, file:///C:/Users/PC/AppData/Local/Temp/langfeld.pdf

Vilč, Sonja: „KUNST. POLITIK. WIRKSAMKEIT. Betrachtungen zwischen Niklas Luhmann und Jacques Rancière“ 2015. Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, file:///C:/Users/PC/AppData/Local/Temp/vilc.pdf 

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