Kanonschreibung als Beginn einer Diskussion

von Erik Lhotka

Grundidee

Die aktuelle Kanonschreibung in der Kunstgeschichte benötigt aufgrund ihrer teils blinden Flecke und ihrer fehlenden Stringenz in der jüngeren Historie eine Neuformulierung, die die zeitgenössischen Ansprüche und Themen mit einschließt. Daraus resultierend folgte die Idee der Gegenüberstellung künstlerischer Strömungen und ähnlich bedeutsamer Ankerpunkte in der bisher tradierten Kunstgeschichte sowie möglicher noch unentdeckter bzw. wenig betrachteter Einflüsse der (globalen) Kunstgeschichte.
Ziel ist es eine Kanonformulierung um einen „roten Faden“ herum aufzubauen, der einen Ausgangspunkt für mögliche weitere Nachforschungen, Diskussionen und auch einen demokratischen Streit über die Bedeutsamkeit diese oder jenes Werkes ermöglicht. Erreicht werden soll diese Gegenüberstellung zugunsten produktiver Reibungen an der Kunst über die direkte Gegenüberstellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden sich gegenüberstehender Strömungen und auch beispielhafter Werke ebendieser zur Veranschaulichung.

Ein möglicher Ansatz anhand eines Beispiels

Als möglichen Ansatz für eine solche Kanonschreibung führe ich hier die Gegenüberstellung des Futurismus und der „Pittura metafiscia“, also der metaphysischen Malerei, ein. Um den Rahmen der Nachforschungen und diese Beispiels nicht zu sprengen, beziehe ich mich hier also auf einen relativ eng gewählten Zeitraum, der zudem noch lokal auf das Italien des frühen 20. Jahrhunderts beschränkt ist.
Zentraler Punkt der Überlegungen hierzu ist der Zeitraum des ersten Weltkrieges, der auf einer gewissen Geisteshaltung in weiten Teilen Europas fußte, die wiederum zum Ausbruch des Krieges führte. Der Ausdruck dieser Haltung lässt sich im Futurismus wiederfinden, welcher im Italien der Vorkriegsjahre seinen Ursprung hat und sich der Bewegung und dem Dynamismus verschrieben hat.
Die Anhänger des Futurismus sahen sich vom europäischen Kunstgeschehen und -gespräch ausgeschlossen und wollten in Anlehnung und Abgrenzung zum Kubismus der Jahre (einerseits geometrische Vereinfachungen, andererseits Bewegung anstatt Statik) ihren naiv-positivistischen Fortschrittsglauben und ihr Bekenntnis zum Imperialismus malerisch zum Ausdruck bringen. Geprägt vom Zeitgeist stand die Verherrlichung von Gewalt und Grausamkeit, aber eben auch der Geschwindigkeit und des Rauschs der Sinne im Mittelpunkt des Geschehens. Filippo Tommaso Marinetti fantasierte in Manifesten über die Vernichtung von Bibliotheken, Museen und Universitäten, um jegliche Rückwärtsgewandheit und Besinnung auf alte Meister endgültig hinter sich zu lassen. Eine Nähe zum Faschismus ist aufgrund der damaligen gesellschaftlichen Umstände nicht überraschend, da der positive Blick auf den Imperialismus beide verband (Krieg als „läuterndes Stahlbad“). Als eindrückliches Werk dieser Zeit kann hier „Die Stadt erhebt sich“ von Umberto Boccioni (1910) zur Gegenüberstellung verwendet werden:

Im Gegensatz hierzu steht die „Pittura metafisica“, die metaphysische Kunst, die zeitlich unmittelbar nach Kriegsende ihre kurze Blütezeit hatte und deren Künstler die Folgen des Krieges unmittelbar in den eigenen Knochen spürten. Die metaphysische Malerei stand mit ihrer Idee im Kontrast zum Futurismus. Es wurde eine verrätselte, materialistische Darstellung, die sich mit der Innenwelt und Themen wie dem Gefühl der ständigen Bedrohung, traumatischer Angst und einer traumhaften zweiten (parallelen) Wirklichkeit beschäftigte, gefunden, die wiederum ihre Anknüpfungspunkte an die italienische Frührenaissance setzte und Bezug zu den existen- zialistischen Ideen von Nietzsche und Schopenhauer nahm. Aus dieser Kunstströmung heraus, die die Folgen des Krieges in der Innenwelt indirekt thematisierte, folgte die Strömung der neuen Sachlichkeit in weiten Teilen Europas. Die neue Sachlichkeit übt die soziale Kritik im Gegensatz zu den Strömungen der Vorkriegsjahre und versteht sich als Anklage der Kriegsverherrlichung und sowie Gegner der formalisierten Kunst. Wie beim Vorreiter, der metaphysischen Malerei, findet eine historisierende Rückkehr statt, die das Figürliche und das Monumentale in den Mittelpunkt stellt. Metaphysische Maler wie Giorgio de Chirico wendeten sich ebenfalls dieser Strömung zu. Aber auch hier bestand eine Nähe zum Gedankengut der Faschisten, wobei der Imperialismus weniger Pate dafür stand, als mehr das Monumentale und auf die nationale Kunst der alten italienischen Meister bezogene, das nun im Vordergrund stand. Auch die Wiederherstellung traditioneller Werte wie Ordnung, Methode und Zucht als Programmatik spielte der faschistischen Ideologie zu, auch wenn direkte Abhängigkeiten nicht offensichtlich wurden. Die Künstlergruppe „Novocento Italiano“ konnte und wollte wohl auch keine Abgrenzung zu Benito Mussolini finden, der bei der Vereinigung der Gruppe hielt.
Als bedeutsames Werk der metaphysischen Malerei ist hier „Hektor und Andromache“ von eben genannten Giorgio de Chirico (1917) eine Möglichkeit:

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