Was könnte eine Alternative zum Kanon sein? Die „Memory Stations“ der Akademie der Künste der Welt

von Hanna Beuel

Im Seminar „Kanon-Fragen“ bei Anna Gehlen im Wintersemester 20/21 an der Universität zu Köln kam die Diskussion auf, ob nicht das Konzept des Kanons an sich immer an Machtverhältnisse und epistemische Gewalt (Gayatri Spivak) geknüpft ist. Kann es einen machtkritischen Kanon dann überhaupt geben? Müsste dem nicht vielmehr ein anderes Verfahren des Weitergebens von Wissen und Erinnerungen entgegnet werden?

2018 nahm ich an dem Workshop „Analogous Memory Digital Archive – Digitale Archive Kuratieren“ bei Madhusree Dutta teil, der künstlerischen Leitung der Akademie der Künste der Welt. Sie legte eine beträchtliche Anzahl an Fotografien auf einen Holztisch und gab uns die Aufgabe, die Fotografien zu organisieren und in Kontexte zu setzen. Auf den Fotografien waren verschiedene Orte aus urbanem Umfeld zu sehen, wie eine Friedhofsmauer. Sie forderte uns damit implizit dazu auf, die Bilder mit persönlichen Erinnerungen und mit persönlichem Wissen in Verbindung zu setzen.

Ein dem ähnliches Verfahren setzte die Akademie mit Memory Stations um, wo verschiedene Menschen als „Public Historians“ arbeiten, „die ihre persönlichen, familiären und gemeinschaftlichen Erinnerungen in die Aufzeichnung größerer öffentlicher/politischer Geschichten einbringen.“ (Dutta, 1) Konkret geht es um die „Spuren“, die die Geschichte der Menschen „in den Städten hinterlassen hat“, und zwar in den Industriestädten des Ruhr- und Rheingebiets. Durch das Sammeln dieser Spuren und Erinnerungen „entsteht ein Palimpsest, ein Ganzes aus Fragmenten vieler verschiedener und manchmal widersprüchlicher Elemente“ (ebd., 2). Dieses Palimpsest gibt nicht vor, was und wie zu erinnern sei, oder welche Geschichten man kennen „muss“. Vielmehr setzt es sich aus vielen verschiedenen Lebensrealitäten zusammen, die nicht für jede Person im gleichen Maße erschließbar sind – und bildet damit auch eine Grundlage für einen intensiven Austausch und Empathie, mit Donna Haraway gesprochen, über das eigene situierte Wissen hinaus. 

In Abgrenzung zu unserer einleitenden Kanon-Definition geht es bei dieser Archivarbeit der Akademie also auch nicht um Traditionswahrung. Wie Dutta formuliert, geht es darum, „das Potenzial der Gegenwart zu erkennen“ (ebd., 1) und sie besser „zu verstehen“ (ebd., 2). Dabei reicht es eben nicht aus, in ein historisches Industrie- oder Stadtmuseum zu gehen, in dem eine offizielle Geschichte erzählt wird – wenn es nicht die erlebten und erinnerten, die „kleinen Geschichten“ (ebd.) sind, die erzählt werden, und wenn dort die Dinge und Dokumente aus ihren persönlichen Kontexten entfremdet werden. 

Duttas Geschichtsverständnis ist, wie sie beschreibt, im Verlauf ihrer künstlerischen Arbeit als Filmemacherin entstanden. Einprägsam war für sie dabei die Arbeit an ihrem ersten Film, I live in Behrampada (1993), wo sie eine 82-jährige Frau über ihre Erfahrungen nach der, auf die Kolonialzeit folgende, Aufteilung von Indien und Pakistan und die Gewalt gegen Muslime in Mumbai interviewte. Dutta schildert, dass sie sich damals, bedingt durch ihr institutionell geprägtes Geschichtswissen, dazu verleitet sah, nach einem eher offiziellen / nationalen Narrativ zu fragen, während die interviewte Frau aber in eine ganz andere Richtung wies: 

My sense of textbook history prompted me to ask her all sorts of questions regarding partition, violence and homelessness as I was hoping to derive an overarching national narrative on communalism. But she insisted on only talking about making a home out of the deserted marshland, about carrying sand from faraway places to feed into the watery ground. My big history of the nation at civil war was clearly coming in the way of her small personal history of laying solid soil to make a home. It was truly a history lesson for me.

Sarkar/Wolf, 25

Während Dutta also nach Themen wie der Teilung selbst, nach Gewalterfahrung und Obdachlosigkeit fragte, erzählte die interviewte Frau beständig davon, wie sie sich ein Zuhause in dem verlassenen Sumpfgebiet aufbauen musste, und wie sie Sand von weit entfernten Orten herantrug, um den feuchten Boden zu festigen. 

Die ,großen‘, nationalen Geschichten stehen also den kleinen entgegen, und es braucht eine intensive und gemeinsame Arbeit, diese kleinen Geschichten (wieder)zufinden. Es geht darum, einen Teppich aus den vielen Erinnerungen und Wissensbeständen einer diversen Gesellschaft zu weben und die persönliche Verortung und Situiertheit darin zu verstehen.

In Madhusree Duttas Umgang mit Erinnerungen, in ihrem Verfahren des Geschichten-Erzählens, liegt ein großes Potential, auch mit den künstlerischen Erzeugnissen einer Gesellschaft und den damit verbundenen politischen Fragestellungen so umzugehen, dass sie nicht den machtvollen Prozessen des Auswählens und Vergessens/Löschens unterliegen. Eine besondere Chance bietet hier die Nutzung digitaler Archive und nicht-linearer, rhizomatischer Anordnungsstrukturen, wie die Memory Stations zeigen. 

Literatur: 

Dutta, Madhusree: Editorial in „Memory Stations: Be a Public Historian. 5 4 – 14 7 2019, hg. v. Akademie der Künste der Welt, Köln 2019, S. 1–3. 

Sarkar, Bhaskar und Nicole Wolf: Documentary Acts: An Interview with Madhusree Dutta. In: BioScope 2(1), 2012, S. 21–34. 

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